j.fried (***@t-online.de) schrieb
am 08.09.04 um 15:28 in /de/soc/politik/misc
Post by Jonas FriedPost by Martin BlumentrittJede Nation ist Indoktrination
So richtig das ist, so wenig stützt es die "Schlußfolgerung". Es ist
etwa so als würde ich sagen: Der Blumentritt ist dumm, denn er besteht
ja nur aus Atomen!
Das mußt Du näher erklären. Was soll die Einsicht in den Wahn der Nation, mit
einem Konzept von Emergenz (Das Ganze ist mehr als die Teile) zu tun haben.
Die Nation ist nicht ein Ganzes, sondern eine semantische Fiktion, ein
Wahngebilde, ein irrationaler Glaube, Irrglaube.
"Nation" oder "Volk" ist definiert als vorgestellte oder eingebildete
politische Gemeinschaft in der Geschichte.
" Nation ist ein Begriff, der, wenn überhaupt eindeutig, dann
jedenfalls nicht nach empirischen gemeinsamen Qualitäten der ihr
Zugerechneten definiert werden kann."(Max Weber, Wirtschaft und
Gesellschaft, S. 528)
Die Konsequenz, die aus dieser alten Einsicht zu ziehen ist, daß
solche Begriffe wie "Volk" oder "Nation" nicht als materialer Urgrund
aufzufassen ist, sie gehört zur "Wertsphäre"(Weber ebenda). "Volk" und
"Nation" ist vom Nationalismus oder Rassismus her zu verstehen.
Auffassungen, die Nationalismus als "übersteigertes Nationalgefühl"
definieren wollten, sind also abzuweisen. Benedikt Andersons Arbeit
über "Nation" faßt "Nation" als rein kommunikativ hergestelltes,
gedankliches Konstrukt auf, als "vorgestellte politische
Gemeinschaft". Damit ist als ein erster Schritt die Suche nach
irgendwelchen faktisch vorhandenen Gemeinsamkeiten, die zu nichts
führte, prinzipiell aufgegeben und einer wirklichen Erforschung der
Weg geöffnet. Denn es sind nun die historischen Umstände und Faktoren
Thema, die die Ausbildung der Gemeinschaftsvorstellung "Nation"
ermöglichten. Die neuen Kommunikationsmedien und -beziehungen waren
wesentlicher Faktor für den Glauben an die Existenz und Einheit der
semantisch hergestellten Fiktionen wie "Volk" und "Nation".
Allerdings ist die Arbeit von Anderson nur der Anfang und noch sehr
allgemein gefaßt. Inhalt, Logik und Spezifika der "vorgestellten
politischen Gemeinschaft" ist näher zu bestimmen. Insbesondere die im
Nationalismus immer enthaltene Vorstellung und Forderung einer
Identität zwischen den Individuen und den Individuen auf der einen
Seite und dem Staat, bei Anderson nicht thematisiert, hat Thema zu
sein. Es fehlt eine ideologiekritische Analyse der
Gemeinschaftsvorstellung von "Volk" und "Nation". Des weiteren
ermangelt es bei Anderson einer Modernisierungstheorie, die den
Umbruch von der traditionalen zur modernen Gesellschaft angemessen
auf den Begriff bringt, obwohl er ja "Nation" als Produkt der Neuzeit
erkennt. Daher widmet er sich fast ausschließlich nur der Entwicklung
der - nicht unwichtigen - Kommunikationsmedien. Ebenso im Jahre 1983
wie Anderson analysierte Ernest Gellner die Nation als eine
historisch neue Erscheinung. Er nuanciert vor allem den vom Staat
betriebenen Aufbau eines Bildungssystems, das sprachlich-kulturelle
Homogenisierungsleistungen erbringt. Er faßt "Nation" als staatlich
hergestelte "Hochkultur". Die Inhalte der Gemeinschaftsvorstellung,
die Homogenitätsforderung und Ausgrenzungstendenz bzw. die Rolle von
Feindbildern zu Bildung der Gemeinschaftsvorstellung der "Nation"
gerät ihm aus dem Blick. Nationalismus gilt ihm als "politisches
Prinzip, das besagt, politische und nationale Einheiten sollen
deckungsgleich sein". Allenfalls am Rande erwähnt er daß Minderheiten
innerhalb der Staatsgrenzen das "Nationalgefühl" hervorrufen müssen.
Diesen Sachverhalt kann er aber weder in Vehemenz und Entstehung
erklären.
Daher ist auf neuere Beiträge der Theorie der "Nation" und zur Genese
der Vorstellung "Volk" abzuheben. Klaus Holz hat Andersons Theorie
präzisiert:
"Nation ist eine vorgestellte politische Gemeinschaft in der
Geschichte. Diese Semantik stellt die Identität einer Gruppe von
Individuen und zwischen diesen Individuen und ihrem Staat her. Die
Nation wird beiden Verhältnissen vorausgesetzt und erhält wenigstens
tendenziell den Rang einer Gewißheit und nicht weiter hintergehbaren
Letztinstanz."(Holz, Der Ort der Mythen der Nation, in: Kritische
Berichte. Zeitschrift für Kunst- und Kulturwissenschaften, 1997, 55)
Ideologietheoretisch ist die Gemeinschaft von Holz näher bestimmt, es
ist von ihr als Vorstellung die Rede, wenn die Existenz und Identität
der behaupteten Gruppe in einem absolut gesetzten Fixpunkt verankert
ist und daraus hergeleitet wird und dieser Fixpunkt axiomatisch als
vorgegeben gilt und daher fraglos akzeptiert wird, also jeder
Begründung oder Erklärung entrückt ist. Es handelt sich mit anderen
Worten um einen Glauben. Daraus folgt des Weiteren, daß die
Vorstellungsgemeinschaft unabhängig vom Willen und Wollen der
Gruppenmitglieder besteht, d.h. logisch vor- und übergeordnet ist:
"Das heißt: Gemeinschaft entsteht und besteht nicht kraft Entschluß
ihrer Mitglieder. Gemeinschaft bedarf nicht der Zustimmung, sondern
ist Bestimmung."(Georg Vobruba, Gemeinschaft als
Gesellschaftsprojekt, in: Gemeinschaft ohne Moral. Theorie und
Empirie moralfreier Gemeinschaftskonstruktionen, 1994 37f, in
Anschluß an F.Tönnies "Gemeinschaft und Gesellschaft)
Hier erkennen wir schon die Potentiale der Gemeinschaftsvorstellung
"Volk" oder "Nation" für autoritäre und diktatorische Herrschaft.
Denn die unhinterfragbare Identität zwischen Gemeinschaft und
Führung, wobei allein letztere eine privilegierte Beziehung zum
Absoluten hat. Hier kommt die Einsicht C.Schmitts zum Tragen, daß
moderne politische Begriffe säkularisierte theologische Begriffe
seien (Bei Schmitt allerdings nicht kritisch, sondern affirmativ
gemeint).
Nun ist - wie schon erwähnt - der Begriff der
Gemeinschaftsvorstellung noch zu allgemein und läßt sich zahlreichen
Gesellschaften und historischen Epochen zuordnen. Wir brauchen also
eine differentia specifica, spezifische Differenz, die darin besteht,
daß die Gemeinschaftsvorstellung "Nation" oder "Volk" unter
Bedingungen, "unter sozialen und kognitiven Voraussetzungen
konstruiert wurde und wird, die sich fundamental von traditionellen
Verhältnissen und Weltbildern unterscheiden."(Holz a.a.O. 1997, S.
58)
Diese soziale und kognitive Voraussetzung ist die Unmöglichkeit einer
Identität der modernen Gesellschaft, die Luhmann sehr schön auf den
Begriff gebracht hat:
"Die moderne Gesellschaft ist durch die Umstellung auf funktionale
Differenzierung so komplex geworden, daß sie nicht mehr als
Einheit repräsentiert werden kann. Sie hat weder eine Spitze, noch eine
Mitte [...] Daran scheitern letzlich wohl alle Versuche, in einer
kollektiven Identität Anhaltspunkte für individuelle
Identitätsbildung zu gewinnen."(Luhmann, soziologische Aufklärung Bd.
6, S. 138)
Das Individuum ist aber gezwungen eine grundsätzliche biographische
Einheit zu konstituieren, horizontal in seinen Lebensalltag durch
Teil-Inklusionen in verschiedene Subsysteme, als auch vertikal in
seiner Lebensgeschichte, also in der Abfolge wechselnder
Kombinierungen von Teil-Inklusionen, die mit sozialer und regionaler
Mobilität sich steigern. Da es keinen Ort gibt, wo der Einzelne als
gesellschaftliches Wesen existieren kann, kann das Individuum nicht
mehr durch Inklusion, sondern nur durch Exklusion definiert werden.
Die gesellschaftlich, sozial produzierte Individualisierung erfolgt
gegen die Gesellschaft und das Individuum erfährt sich gegenüber der
Sozialwelt und den anderen Individuen als fremd und distanziert. Die
Individuen - so auch B.Anderson - treten als Fremde gegenüber.
Soziale Verortung ist strukturell prekär und muß gegen die Realitäten
der modernen Gesellschaft immer wieder neu reproduziert werden.
Vor exakt diesem gesellschaftlichen Hintergrund ist das Spezifikum
der Gemeinschaftsvorstellung von "Nation" oder "Volk" zu sehen. Sie
ist historisches, gesellschaftliches Resultat des Mangels an
wirklicher Gemeinschaft, kann auf kein reales gesellschaftliches
Moment sich berufen. "Volk" und "Nation" sind
Gemeinschaftsvorstellungen, die anders als traditionelle Gesellschaften
ohne gesellschaftsstrukturelles Pendant ist. Die
Gemeinschaftsvorstellungen artikulieren ein grundsätzliches Unbehagen
im Bestehenden und werden realiter permanent dementiert durch die
Gesellschaft. Daher kann die Gemeinschaftsvorstellung von "Volk" und
"Nation" als antimoderne Antwort auf die moderne Gesellschaft
aufgefaßt werden. "Nation" und "Volk" suggerieren das, was
Gesellschaft unmöglich macht, die Aufhebung von Individualisierung
und strukturelle Fremdheit der atomisierten Individuen oder
"Dividuen"(G.Anders). "Nation" und "Volk" sind unerfüllbare
Erwartungen. Und diese Erwartungen richten sich an die Staatsführung,
sie solle die "nationale Gemeinschaft" (wieder)herstellen und
garantieren. Diese Fixierung entsteht und kann entstehen, weil der
Staat - der ja nicht Weltstaat, sondern viele Staaten ist - bestimmen
muß, wer als Staatsbürger gilt und wer nicht.
Während fast alle sozialen Beziehungen flüchtig sind, alles auf
Instabilität beruht, ist die abstrakte Zugehörigkeit zum Staat
kontinuierlicher, kann gar als quasi-natürlich und sicher erscheinen.
Erscheinen ist aber nicht Sein. Des weiteren beansprucht der Staat
seit der französischen Revolution den "Willen des Volks" zu
repräsentieren, das "Gemeinwohl" zu garantieren und über den
Interesser aller Bürger zu stehen, auch Fiktionen. Und der Staat soll
die Risiken der kapitalistischen Ökonomie abfedern.
Auch diese Bindung der Gemeinschaftsvorstellung "Volk" oder "Nation"
ändert nichts an der grundsätzlichen Paradoxie, daß gesellschaftliche
Einheit nur simuliert wird, während sie durch die reale Gesellschaft
durchgehend konterkariert wird. Eine Identität von Gesellschaft und
Individuum ist nicht möglich, das Allgemeine ist Realabstraktion.
Daher bedarf es der ständigen Mobilmachung im Namen von "Volk" und
"Nation", permanenter Operationen und Kommunikationen, die folgende
Strategien verfolgen: die 1. Inszenierung von Gemeinschaft, 2.
Naturalisierung und Ethnisierung von Gemeinschaft, 3. Konstruktion
einer Nationalgeschichte und 4. Selbstidentifikation durch
Feindmarkierung.
Ad 1) Über Mythen, Symbole, Fahnen und Denkmäler wird eine nationale
Liturigik analog der religiösen entwickelt. Im Tode findet real wie
symbolisch die Nation auch ihr Prinzip:
"Es gibt keine fesselnderen Symbole für die moderne Kultur des
Nationalismus als die Ehrenmäler und Gräber der Unbekannten Soldaten.
Die öffentlichen Referenzen, die diesen Denkmälern gerade deshalb
erwiesen werden, _weil_ sie entweder leer sind oder niemand weiß, wer
darin bestattet ist, haben kein Vorläufer in früheren Zeiten. (...)
Doch so entleert von bestimmbaren menschlichen Überresten oder
unsterblichen Seelen diese Gräber auch sind, so übervoll sind sie von
gespenstischen _nationalen_ Vorstellungen."(B.Anderson, Die Erfindung
der Nation S.18)
Ad 2) Die Naturalisierung und Ethnisierung von Gemeinschaft ist die
Imagination gemeinsamer Abstammung. "Das uns so archaisch anmutende
Prinzip der Blutsverwandtschaft ist nicht Ausgangspunkt, sondern
Folge der Definition des Staatsvolks im europäischen Staatensystems."
(Matthias Bös, Ethnisierung des Rechts? Staatsbürgerschaft in
Deutschland, Frankreich, Großbritanien und den USA, in Kölner
Zeitschrift für Soziologie 45 Jg. 1993 619-643, S. 639)
Die wie auch immer gefaßte naturhafte Verankerung der Existenz einer
Wir-Gemeinschaft begründet die konstitutive Nähe und
Entwicklungstendenz der Gemeinschaftsvorstellung von "Volk" und
"Nation" zu biologisch-rassistischen Vorstellungen
Ad 3) Renan hatte bereits die Einsicht, daß "das Vergessen oder gar
das Mißverstehen von Geschichte ein wesentliches Moment bei der
Herausbildung einer Nation" ist. Die nationalistische IndoktriNation
will "Volk" oder "Nation" als immer schon existente Gemeinschaft
aufweisen und verankern, möglichst von frühster Vorzeit bis zur
Gegenwart, gleichgültig welche Kriterien dafür herhalten müssen,
Abstammung, Rasse, Sprache, Kultur. Das "Volk" soll dann so eine
natürliche Einheit durch die Geschlechter hindurch verbürgen. Da die
Wirklichkeit solche Einheitsvorstellung dementiert, soll die Konstruktion
der Nationalgeschichte als eine Kette von Schlachten, Siegen oder
Niederlagen, großen Herrschern und opferwilligen Märtyrern das "Volk"
in der Vergangenheit begründen. Hier sehen wir allerdings heute beim
deutschen "Volk" Schwierigkeiten, gerade wegen der Vergangenheit, die
wenig rühmlich ist. Darum soll ja immer Schlußstrich gezogen werden,
die Schande verborgen werden. Und diejenigen, die da stören, sollen
zum Schweigen gebracht werden. Jeder der Opfergruppe ist ein lebender
Störfaktor für die nationale Indoktrination.
Ad 4) Und so sind wir schon bei der Markierung von Feinden. Daß in
Krisenzeiten innere Konflikte und Integrationsdefizite zu
nationalistischer Ausgrenzung und Aggression nach außen führen, heute
etwa gegen die USA und Israel, wie wir es in Deutschland sehen, ist
so trivial, daß es immer wieder von Historikern bemerkt wurde.
Entscheidender ist - und das betonen neuere Arbeiten zum Begriff von
"Volk" und "Nation" - daß die aggresive Abgrenzung und die
Entwicklung von Feindbildern keineswegs erst in Krisensituation
entstehen, sondern integraler Bestandteil der
Gemeinschaftsvorstellung von "Nation" und "Volk" sind. Die "Nation"
benötigt allein deswegen einen Feind, weil in der funktional
ausdifferenzierten Gesellschaft jede Behauptung von Identität durch
die reale Nichtidentität dementiert wird. Die gesellschaftlich
Individualisierten sind unabdingbar und unaufhebbar fremd und fern
voneinander und nichts existiert, was das in der kapitalistischen
Gesellschaft ändern und zu einer solidarischen Gemeinschaft führen
könnte. Dieses Dilemma wird gelöst mit der Konstruktion von "Fremden",
"Anderen", "Feinden". Die institutinelle Basis dafür liefert der
Staat in der Unterscheidung von In- und Ausländern, Staatsbürgern und
Nicht-Staatsbürgern. Selbst wenn diese unideologisch erfolgt, erfolgt
eine grundsätztliche Beziehung von Freund und Feind, wer dazugehört
und wer nicht. Das Außen wird nicht nur als konturlose Menge von
Anderen konstruiert, sondern als ein Menge von auf Unterschiede
gebrachte andere "Nationen" mit jeweils anderem "Nationalcharakter".
Durch die Stereotypisierung wird die inhaltliche Leere des
Unterschieds von Wir und Denen verdeckt. Erst die Konstruktion des
Anderen als Fremden konturiert das Selbstbild der ersehnten
Gemeinschaft. Und da man sich nicht mit negativen Eigenschaften
identifizieren kann, müssen die Eigenschaften positiv verzeichnet und
nach der Logik der Reziprozität die Anderen negativ charakterisiert
werden. Dazu reicht es nicht aus, daß bloß Andere konstruiert werden,
die einfach nur anders sind oder relativ weniger anziehend, sondern
die Gemeinschaftsvorstellung "Volk" und "Nation" ist immer auch
begleitet von der Identifizierung eines Anderen als bedrohlichem
"Feind". Aus der Mannigfaltigkeit von Anderen resultiert in der Regel
ein Hauptfeind, die Notwendigkeit eines Gegenbildes der eigenen
Nation resultiert in einem Feindbild. Historisch sah man das an der
großen Bedeutung sog. "Erzfeinde" bei der Einbildung, also Bildung
der "Nation". "Die Definition des Feindes ist hier gleichursprünglich
mit der Definition der durch ihn bedrohten Einheit."(Hoffmann, Die
Konstitution des Volkes durch seine Feinde, in Jahrbuch für
Antisemitismusforschung 2, hrg. Wolfgang Benz, Frankfurt 1993, S. 22)
"Das Gemeinschaftsgefühl der Massen braucht zu seiner Ergänzung die
Feindseligkeit gegen eine außenstehende Minderzahl."(S.Freud, Der
Mann Moses und die monotheistische Religion, SA Bd. IX, 1974 S. 538)
Insbesondere Kriege eignen sich zur Formierung der "Nation", weil die
Bedrohung zur existentiellen Bedrohung gesteigert wird. Der
reaktionäre Romantiker Adam Müller pries daher den Krieg als
Gemeinschaftsbildner:
"Daß der Staat ein auf Tod und Leben verbundenes Ganzes sey, ...
erkennen seine Teilnehmer im Friedenszustande sehr schwer, da
nehmlich ist jeder Teilnehmer viel mehr gegen seine Mitteilnehmer,
als gegen den benachbarten Staat, aufmerksam und feindlich
eingestellt."(Adam Müller, Elemente der Staatskunst Jena 1922 I, S.
84) Erst Kriege gäben daher den Staaten "ihre Umrisse, ihre
Festigkeit, Individualität und Persönlichkeit."(Müller a.a.O. 1922
Bd. II S. 5)
Dem Feind nach außen korrespondiert stets ein Feind nach innen, der
Fremde im eigenen Land. Der Ausländer im Inland ist der Prototyp des
Fremden. Er erfüllt im Vergleich mit dem äußeren Feind die Funktion
eines Gegenbildes, das auf vorurteilshaften, abwertenden
Eigenschaftszuschreibungen im unmittelbaren Alltag beruht und
stabilisiert werden kann. Fremde SIND nicht fremd, sie werden fremd
GEMACHT. Die Doppeldeutigkeit von "fremd" ist im Englischen
aufgehoben in der Unterscheidung von "strange" und "unknown". Die
generelle strukturelle Fremdheit, nur ausnahmsweise kennen wir den
Anderen, wie ein Blick in das Telefonbuch zeigt, wird auf die zu
"Fremden" erklärten projiziert und so im Gegenzug Vertrautheit mit
den Eigenen suggeriert. Da die reale Fremdheit aller aber die
Vertrautheit ständig dementiert, werden zwei Fliegen mit einer
Klatsche geschlagen. Der innere Feind wird verantwortlich gemacht
auch für diese Fremdheit und dafür, daß die Einheit der "Nation" sich
ständig als bloße Schimäre erweist. In Deutschland waren nur die
Juden das geeignete Feindbild und so spielte der Antisemitismus eine
große Rolle bei der Entstehung der "Gemeinschaftsvorstellung der
politischen Gemeinschaft" "Nation".
Nun war die Erfindung der deutschen "Nation" mit der offensichtlichen
Unauffindbarkeit der Einheit und Gemeinschaft in der politischen und
gesellschaftlichen Wirklichkeit konfrontiert. Ernst Moritz Arndt
suchte vergeblich nach einem deutschen Volk: "Deutsches Volk? Was
bist du, und wo bist du? Ich suche und finde dich nicht."(Ernst
Moritz Arndt, Deutsche Volkswerdung. Sein politische Vermächtnis an
die deutsche Gegenwart. Kernsellen aus seinen Schriften und Briefen,
hrsg. Carl Petersen, Paul Hermann Ruth, Breslau 1934 S. 62)
Die revolutionär sich konstituierende Nation - als
Drittenstandsbegriff - Frankreichs konnte aus einer zentralistisch
verwalteten absolutistischen Monarchie mit relativ feststehendem
Territorium aufbauen, während das prospektive deutsche Land aus
einer Vielzahl politischer Einheiten bestand. Der absolutistische
Zentralismus fehlte. Daher konnte bei der Genese der
Gemeinschaftsvorstellung die Rolle des Feindbildes in besonderer
Schärfe zutage treten. In Frankreich war sie natürlich auch
vorhanden, aber der Gegensatz zu Adel und Klerus dominierte. Der
revolutionäre Kontext der Konstruktion der Gemeinschaftsvorstellung
der französischen "Nation", störte allerdings die Deutschen und machte
auch ein Moment das deutschen Nationalismus aus.
Es wurde nicht bloß Napoleon und seine Armee zum Feind erklärt,
sondern das französische "Volk" wurde als Ganzes zum hassenswerten
Feindbild stilisiert. "Daher muß ein Volk einem Volke, solange es als
solches bestehen will, durchaus gegenüberstehen, und fast feindselig
gegenüberstehen."(Ernst Moritz Arndt a.a.O. 1934 S. 111) Die
Deutschen sollten erkennen, daß "sie ein viel besseres und edleres
Volk sind als die Franzosen"(Ernst Moritz Arndt, Werke. Auswahl in
zwölf Teilen, hrsg. August Leffson und Wilhelm Steffens o.J. S. 178f)
"Laßt uns die Franzosen nur recht frisch hassen ... als Deutsche, als
Volk bedürfen wir dieses Gegensatzes."(Arndt a.a.O. o.J. IX 139) Eine
Schrift hießt dann ja auch "Ueber den Volkshass". Und Fichte ist ganz
deutlich: "Im Kriege und durch gemeinschaftliches Durchkämpfen
desselben wird ein Volk zum Volke." Allein der Krieg gegen Frankreich
- so Görres - könne "unserm Volke die Einheit gegen." Der Opfertod
ist der Leitfaden für die "Nation".
Ein zweites Moment der deutschen Nationsvorstellung ist die Tendenz
zur Naturalisierung und Ethnisierung der "Nation". Es wurde immer
inhaltsleer auf ein transzendentes "deutsches Wesen", auf ein
"Volksgeist", "Volksthum" oder "Volksthümlichkeit" sich berufen. Die
ganze Romantik triefte nur so von arischen Mythen. Friedrich Schlegel
war nicht weniger als J. Grimm Anhänger des Mythos einer
nordisch-germanischen Rasse, die allen anderen überlegen sei. Es
herrschten organische Vorstellungen vor, "daß alle Mitglieder
gleichsam nur Ein Individuum bilden sollen". Dazu müssen "alle von
der nämlichen Abstammung sein,.. desto mehr wir es eine Nation sein".
Ein drittes Moment in Deutschland war: Autoritäre Tendenzen waren
hier von Anfang an impliziert. Die jeder Gemeinschaftsvorstellung
innewohnende Überordnung des Ganzen über die Einzelnen prägte in
Deutschland sich infolge der Naturalisierung besonders aus. Adam
Müller hielt es für entscheidend, daß sich jeder "unaufhörlich wieder
dem Ganzen unterwirft und hingiebt"(Müller a.a.O. 1922 I 329) Der
Gesamtwille soll auch der der Einzelnen sein, wobei allerdings die
Führungsinstanz einen privilegierten Zugang zum Inhalt des
Volkswillen hat. " Durch das Volk heißt mir durch die Idee des
Volkes "(Ernst Moritz Arndt, Germanien und Europa. Ein Buch an der
Schwelle unseren Zeitalters, System, Bedeutung, Einordnung in die
Zeit, hrsg. Ernst Anrich, Stuttgart 1940 S. 196) Der weise
Gesetzgeber tue schon das, was das Volk wolle.
Als viertes Moment haben wir den besonders hervortretenden
antimodernen Impuls. die Stoßrichtung war antifranzösisch und mehr
und mehr antijüdisch. Dies zeigte sich besonders in dem antimodernen
Topos "deutscher Kultur". Diese versprach die völlig fehlende
Realität einer Einheit zu kompensieren. "Deutsche Kultur" war ein
gegen Frankreich und die Juden gerichtete Kampfbegriff. "Deutsche
Kultur", das hießt Bodenständigkeit, Verwurzelung, höchste Werte
beinhaltend, während die franzöische und jüdische Kultur künstlich,
räsonierend und oberflächlich, wurzellos dargestellt wurde. Bis hin
zur Weimarer Republik entwickelte sich die deutsche Nationskonzeption
in der Form, daß die Homogenisierung durch Feinderklärung und
Naturalisierung des Volkes oder Ethnisierung der Politik betrieben
wurde. Dies ist etwas speziell Deutsches, das auf die in der
nationalistischen Ideologie prinzipiell innewohnende Dynamik
verstärkend einwirkte.
Diese Tendenzen finden sich auch in Frankreich, auch hier haben wir
identitäre Tendenzen, die kontrafaktische Behauptung einer
Gemeinschaft, konstitutiv begleitet vom Auschluß und Bekämpfung von
Feinden, wozu allerdings der Adel und Klerus als innerer Feind
hinzutrat, so daß die Entwicklung nicht so krass war wie in
Deutschland. Der Hauptfeind waren die Privilegierten, über die Sieyes
so herzog wie deutsche Neonazis über Asylanten.
In Deutschland konnte ein Feind zwei Fliegen mit einer Klappe
schlagen, sie konnte als innerer wie äußerer Feind fungieren - noch
in Hitlers "Mein Kampf" ist das so, daß er über die Zionisten
herzieht - die Juden galten als "Nation in der Nation". Die
zufälligen Umstände der Geschichte hatten die Juden dazu
prädestiniert für Deutschland die Funktion des anwesenden Anderen zu
erfüllen, deren die Gemeinschaftsvorstellung zur Grenzziehung,
Homogenisierung und Stabilisierung bedarf. Die christliche
antijudaistische Tradition per definitionem - die Christen mußten
sich von der Gruppe absetzen, aus deren Verrat sie sich entwickelt
hatten - hatte hier ihren Beitrag, viele Antisemiten waren Prediger,
man denke an Stöcker und Lueger. Die Juden waren die "religiös
Anderen" zu denen traditionell eine Grenze gezogen war, sie waren
sozial, rechtlich, räumlich und sichtbar gekennzeichnet ausgegrenzt
gewesen. Gerade ihr Unsichtbarwerden in Emanzipation und Assimilation
drohte die Gemeinschaftsvorstellung von "Volk" und "Nation" zu
zerstören. Schon lange vor dem dezidiert biologistisch-rassistisch
sich begründenden Antisemitismus predigte man eine grundsätzliche,
unaufhebbare Fremdheit zwischen Deutschen und Juden. Die ökonomische
antisemitische Argumentation, stand in den Anfängen noch nicht im
Vordergrund, das galt erst im späten 19. Jh. Es ging nicht nur um die
Abwehr der Gleichstellung der Juden, die durch den Code Napoleon
gebracht wurde. Intellektuelle wie J.F. Fries - gegen den Hegel
seinen Antisemitismus aufgab, vor der Hetze erschaudernd, vgl.
Rechtsphilosophie Einleitung - nutzen die Juden als "inneren Feind"
zur Konstitution des deutschen Volkes. Friedrich Rühs brachte das
drastisch zum Ausdruck: "Jedes Volk, das sich in seiner
Eigentümlichkeit und Würde zu behaupten und zu entwickeln wünscht,
muß alle fremdartigen Theile, die es nicht innig und ganz in sich
aufnehmen kann, zu entfernen und auszuscheiden suchen, dies ist der
Fall mit den Juden."(Friedrich Rühs, Über die Ansprüche der Juden an
das deutsche Bürgerrecht. Mit einem Anhang über die Geschichte der
Juden in Spanien, Berlin 1816 S. 32)
Durch das 19. Jh zieht sich die Bezeichnung der Juden als Fremdlinge
durch. Der Erfinder des Wortes Antisemitismus Wilhelm Marr spricht
immer noch von "fremdem Volksstamm", "semitischer Fremdling",
"fremdes Volkselement", "semitische Race" und "Staat im Staate".
(Marr, Der Sieg des Judentum über das Germanenthum, Berlin 1879, S.
11, 20, 22, 32, 43). Besonders die assimilierten Juden gerieten ins
Fadenkreuz der Antisemiten, weil ihre Existenz die behauptete
unüberwindbare Differenz in Frage stellte und damit die simulierte
Identität in der Gemeinschaftsvorstellung deutscher "Nation". Und so
galten die orthodoxen Juden, die religiösen Juden als die geringere
Gefahr: Wilhelm Marr Er wendet sich strikt gegen den traditionellen
Antisemitismus: "Gegen jede »religiöse« Verfolgung nehme ich somit
die Juden unbedingt in Schutz."a.a.O.
Heinrich - "Die Juden sind unser Unglück" - Treitschke schrieb sodenn
auch: "Wer...behauptet, das Judenthum sei genau in demselben Sinne
deutsch wie das Christentum, der versündigt sich."(Heinrich von
Treitschke, Herr Graetz und sein Judentum, in: Walter Böhlich, Der
Antisemitismusstreit, Frankfurt 1965 S. 86) Auf der einen Seite
forderte Treitschke die totale Assimilation "unser jüdischen Bürger"
sollen sich "rückhaltlos entschließen Deutsche zu sein", auf der
anderen hielt er die "vollständige Verschmelzung für unmöglich. (a.a.O
S. 12 S. 36)
Schließlich mußten ja unter Hitler dann die Juden gelbe Sterne
tragen, damit ja keine Vermischung droht. Denn Deutschsein benötigt
die Abgrenzung gegen Juden. Dies wurde als deutscher Sozialcharakter
verinnerlicht, so sehr, daß selbst der Kreis der Hitlerattentäter
Antisemiten blieben.
mfg Martin Blumentritt http://www.martinblumentritt.de/
"Ich habe Lust an der Liebe und nicht am Opfer"(Hosea 6.6)